Wer weiß denn schon, was richtig ist?

Was miese Laune und „Culture Cancel“ miteinander zu tun haben, erklärt HALLO-Redakteur Ewald Kremer

Eine Glosse von HALLO-Redakteur
Ewald Kremer

Vorfahrt genommen! Ich lächle. Zu eng überholt! Ich schimpfe wie ein Rohrspatz. Das falsche Getränk im Café gebracht! Da geh ich nie wieder hin. Fisch versalzen! Ich schaue gnädig über den Lapsus hinweg. Das hat doch jede und jeder schon mal erlebt: Gute Laune macht unsere Urteile milder. Schlechte Laune macht uns radikaler in unserer Bewertung.

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Manchmal geht uns das rechte Maß verloren. Ein Blick in die Kommentarspalte bei Amazon genügt. Hier wurde eine schlechte Bewertung abgeben, weil das Paket beschädigt war. Oder weil man ganz offensichtlich von sehr irrigen Annahmen beim Kauf ausging. Etwa bei der Kamera, die in Bausch und Bogen verurteilt wird, weil sie keinen Blitz hat und nun die Innenaufnahmen alle misslungen sind. Lesen macht klug, insbesondere vor dem Kauf. Das gilt auch für die Buchung von Mallorca „all inclusiv“ für 350 Euro die Woche. Da wird aller Wahrscheinlichkeit nach kein 5-Sterne-Hotel mit Meerblick auf die Reisenden warten.

Warum sind viele so unerbittlich und unerträglich böse, wenn sie auf eine andere Meinung treffen? Klar, es gibt gute Gründe, bestimmte Aussagen oder Verhalten nicht zu tolerieren. Rechtsradikalismus und Kinderpornographie beispielsweise. Und es gibt einen Wertekodex und Moralvorstellungen, die verbindlich für unsere Gesellschaft sein sollten. Sich gegenseitig nicht umzubringen beispielsweise. Aber auch, sich mit Respekt zu behandeln.

Bei letzterem hakt es schon. Ohne in eine Schelte der „Sozialen Medien“ verfallen zu wollen: Die unreflektierte Meinungsäußerung oder der böswillige Kommentar sind schon Phänomene, die mit dem Siegeszug von Facebook, Twitter, Instagram, und Co. zugenommen haben. Denn auf diesen Plattformen kann man sich zu gut hinter seinem Nickname verstecken und muss dem „Opfer“ seines Kommentars nicht von Angesicht zu Angesicht entgegentreten.

Die jüngste Form der unerbittlichen Entrüstung ist das „Culture Cancel“. Gemeint ist damit der Boykott von Menschen oder Veranstaltungen, die augenscheinlich Missliebiges gesagt oder getan haben. Hier wird mit der ganzen Kraft der angeblich Richtigdenkenden auf jemanden eingeschlagen. Es reicht manchmal schon der Verdacht des Fehlverhaltens dafür aus, dass jemand kollektiv verurteilt wird. So war es zum Beispiel bei der Kabarettistin Lisa Eckhardt, die in ihren Satiren sehr drastisch ist und für einige sicherlich auch jenseits des guten Geschmacks agiert. Ihr rechtes Gedankengut zu unterstellen ist allerdings absurd, sie gesellschaftlich zu ächten unmöglich.

Auch Dieter Nuhr hat es getroffen. „Wissenschaft weiß nicht alles, ist aber die einzige vernünftige Wissensbasis, die wir haben“ hatte er seinen Beitrag für die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) überschrieben. Aus Angst vor einem Shitstorm aus dem links-intellektuellen Milieu wurde der Beitrag von der Website der DFG genommen. Inzwischen haben sich die Verantwortlichen dafür entschuldigt und den Beitrag wieder freigeschaltet.

Nun können sich Kabarettisten in der Regel gut selbst wehren. Andere tun sich damit schwerer. „Culture Cancel“ kann heute jeden treffen, der sich unbequem äußert oder verhält. „Wenn wir glauben, auf der Seite des Guten zu stehen, können wir uns den Argumenten unseres Gegenübers verschließen und Gefahr laufen, ihn für moralisch ignorant oder vielleicht sogar böse zu halten. Hinzu kommt, dass es manchen Leuten gar nicht um das Gute geht. Sie wollen bloß nach außen hin ihre Zugehörigkeit zu einer weithin als gut wahrgenommenen Sache demonstrieren oder sich im Gefühl ihrer moralischen Überlegenheit sonnen“, hat der Grazer Philosoph Thomas Pölzler kürzlich zum „Culture Cancel“ geschrieben. Wie wahr!

In der Demokratie muss man einiges aushalten. Dazu gehört in jedem Fall auch die Meinung des Andersdenkenden. Man muss deswegen aber nicht vor den Schreihälsen in die Knie gehen. Hinterfragen und Widerspruch sind nicht nur erlaubt, sie gehören zur Grundkultur des demokratischen Streits. Und in der Argumentation darf man nicht nur gute Gründe, sondern auch die eigenen moralischen Vorstellungen anführen. Man sollte nur nicht meinen, dass der Gegenüber grundsätzlich böse und alles, was er sagt, Blödsinn ist. Im Zustand der Entrüstung fällt das zugegeben meist schwer. Also sollte zum Regelkanon einer guten Diskussion immer auch eine Spur Gelassenheit gehören. Wer die Dinge erst einmal sacken lässt, kommt meist zu einem milderen Urteil.

PS. Wenn Ihnen dieser Meinungsbeitrag nicht gefallen hat, dann schlafen Sie einfach mal eine Nacht darüber und antworten mir dann!

(aus HALLO Borken 09.2020)

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